Dieser Artikel liegt mir schon lange am Herzen, weil es hier um ein Thema geht, welches, meiner Meinung nach, schon lange abgehakt sein sollte, es aber offensichtlich nicht ist.
In unseren Kursen zeigen wir den Kursteilnehmern immer auch die Einladung mit Mirada und Cabeceo. Auch in dem Kurs über den ich hier erzähle, ging das während des Kurses auch problemlos.
Bei der abendlichen Practica dagegen fiel mir eine Kursteilnehmerin auf, deren Blick ich nie auffangen konnte, und die somit die Einladung zum Tanz nur schwer möglich machte.
In Milongas würde ich normalerweise nicht versuchen, eine Dame aufzufordern, die offenkundig keinen Blickkontakt sucht. Bei unseren Practicas frage ich dagegen schon nach, wenn ich sehe, dass jemand nicht tanzt. Immerhin ist es meine Rolle als Kursleiter, allen Teilnehmern zu helfen.
Auf meine Frage, warum sie immer ihren Blick gesenkt hielt, und nie aktiv Blickkontakt suchte, sagte sie mir “Ich fühl mich dann wie eine Schlampe”
Ich war erst mal perplex. Die Dame war, Ärztin, beruflich erfolgreich, eine gestandene, Frau und wirkte eigentlich nicht schüchtern oder ängstlich.
Ich erklärte ihr dann eingehend, dass aktiv den Blickkontakt zu suchen, beim Tango ganz normal wäre, und überhaupt nichts Schlimmes sei, und dass man sich dafür auch in keiner Weise zu schämen bräuchte.
Irgendwann hat sie es dann auch akzeptiert, ihre Vorbehalte beiseite geschoben und mit Blickkontakt zum Tanz eingeladen.
Was ich aber nicht verstehe, und was mich auch immer aufs Neue ärgert, ist, wenn Frauen sich offenbar im 21. Jahrhundert immer noch von völlig überholten Sichtweisen aus längst vergangenen Zeiten beeinflussen lassen, und sich selbst im Denken und Handeln unnötige Beschränkungen auferlegen.
Da waren die Portenos zur Hochzeit des Tango schon weiter.
Eine andere Sache die ich auch überhaupt nicht verstehe, ist warum dasselbe Verhalten, Auffordern mit Blickkontakt, oder von mir aus auch eine verbale Aufforderung zum Tanz, offenbar bei Frauen und Männern immer noch unterschiedlich gesehen und /oder bewertet wird.
Welche neurotischen Gespenster spuken da auch heute noch in manchen Köpfen?
Ich empfinde es fast immer als angenehm , wenn eine Frau mich zum Tanzen auffordert, wie auch immer sie das anstellt.
“Fast” sage ich weil es manchmal (aber zugegebenerweise eher selten) Situationen gibt, in denen ich keine Lust habe mit einer Dame zu tanzen, zum Beispiel weil mich die Musik nicht zum Tanzen lockt, oder weil ich gerade versuche Blickkontakt mit einer anderen Dame zu erheischen.
Wenn eine Dame in solch einem Moment zu mir kommt, und mich auffordert, lehne ich meistens freundlich ab und verspreche eine andere Tanda mit ihr zu tanzen.
Nie, wirklich NIE hatte ich bisher die Vorstellung, dass eine Dame die mich anspricht (von Anschauen ganz zu schweigen), und zum Tanzen auffordert, unangemessen oder wie eine “Schlampe” handeln würde.
Ich kann/will mir auch nicht vorstellen, dass dies beim allergrößten Teil der anderen Männer der Fall ist.
Es gibt natürlich Männer und Frauen, die in diesen Kategorien denken, aber ich glaube, deren Menge und Wichtigkeit wird oft überschätzt.
Wenn ich mit dieser Meinung jedoch falsch liegen sollte, ist es höchste Zeit, dass wir alle uns damit auseinandersetzen, warum “Schlamper” durchaus liebenswert klingen kann, während “Schlampe” in keiner Weise freundlich, sondern moralisch abwertend gebraucht wird.
Lieber Wolfgang,
danke das Du dieses Thema aufgegriffen hast.
Ich bin so erzogen worden, dass ich mit jedem tanzen gehen musste, ob der Herr tanzen konnte oder nicht, sympatisch war oder nicht.
Es war ein Muss.
Wir Mädels haben uns dann verabredet auf die Toilette zu gehen oder zusammen zu tanzen damit wir dem aus dem Wege gingen.
Nein zum Tanzpartner zu sagen, ging nicht. Das war ein Korb und der wurde damals mit 10 Pfennig bezahlt.
Das war dann eine Schande für das Mädel.
Ein Mädel/ Frau durfte einen Mann erst bei der Damenwahl auffordern, ansonsten nicht. Das gehörte sich nicht für ein anständiges Mädchen.
Damit jetzt nicht der Eindruck entsteht, das ich uralt bin. Nein, ich bin 58 Jahre jung und diese Tanz- Verhalten waren in meinen Jugend-Jahren so.
Tanzende Grüße
Siglinde
Liebe Siglinde,
vielen Dank für Deinen Beitrag.
Ja, das mit dem Auffordern ist, zu meinem großen Erstaunen, auch heute noch ein Thema, dass immer wieder die Gemüter bewegt.
Allerdings kann ich mich an etwas vergleichbar Blödes wie eine Strafzahlung für einen Korb aus meiner Tanzschulzeit in München nicht erinnern (ich bin auch 58).
Wahrscheinlich hätte es da auch einen Aufstand gegeben.
Dass die Herren aufforderten, war auch dort der Normalfall, aber ich fand das schon immer bescheuert, und habe mich gefreut, wenn auch Aufforderungen von den Mädels kamen.
Zum Glück gibt es aber beim Tango Argentino eben die absolut anerkannte und normale Möglichkeit mit Mirada und Cabeceo, durch Blickkontakt, aufzufordern, aber auch sich wirklich unangenehme Zeitgenossen durch demonstratives Wegschauen vom Leib zu halten.
Ein Nachteil für Tänzerinnen und Tänzer die es mit dem Blickkontakt nicht so haben, ist dabei der, dass viele denken, dass diese keine Lust haben zu tanzen, weil sie das nicht mit Blicken signalisieren (gerade wenn man oder frau permanent angestrengt in Richtung Boden schaut).
Leider sind, meiner Erfahrung nach, diejenigen die zu schüchtern für den Blickkontakt sind, oft erst recht zu schüchtern für eine verbale Aufforderung. Für das Auffordern mit Mirada und Cabeceo ist die Hemmschwelle für die allermeisten doch deutlich geringer.
Deswegen ermutige ich auch alle meine Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen dazu, das Auffordern mit Mirada und Cabeceo zu üben.
Das ist für mich kein Dogma, aber in der Praxis erweist es sich sehr oft als außerordentlich hilfreich.
P.S. Und Frauen sollten sich auf keinen Fall den Stempel „Schlampe“ aufdrücken lassen, sondern selbstbewusst die (Tango)welt anschauen.